Repository logo
 

“Schrift und Sterben. Zu Kontinuität und Wandel der Ars moriendi im Reformationszeitalter.”

Accepted version
Peer-reviewed

Type

Article

Change log

Authors

Abstract

Am 26. September 1465 starb Isabelle de Bourbon, Gräfin von Charolais, nach dreimonatiger Krankheit im Alter von 31 Jahren in Antwerpen. Ihr Tod ist das Thema zweier zeitgenössischer Gedichte, in denen die traurigen Umstände in hochrhetorisch-pathetischem Stil geschildert und beklagt werden: Nicht nur, dass die Gräfin noch jung war, sie musste in ihrer letzten Stunde auf den Trost und Beistand ihres geliebten Ehemanns, Herzog Karls des Kühnen von Burgund, verzichten, weil dieser im Krieg war. Eines der Gedichte, die Complainte sur la mort d’Ysabeau de Bourbon von Pierre Michault, erzählt, wie die sterbende Gräfin Gott, Maria und den Schutzengel um Hilfe und Beistand bittet, wie sie ihrem Ehemann ausrichten lässt, er solle sie nach ihrem Tod nicht vergessen, wie sie die Sakramente empfängt, das Kruzifix küsst und eine ihrer Hofdamen auffordert: „Bringt mir unverzüglich mein Buch, in dem das Wissen über gutes Sterben enthalten ist, und lest mir daraus vor!“ (Apportez moi incontinent mon livre / de bien morir qui contient la science / et m’en lisez). Genauere Angaben zum Inhalt dieses Buches finden sich im zweiten Gedicht, der Complainte de treshaulte et vertueuse dame, madame Ysabel de Bourbon, contesse de Charrolois; der Dichter Amé de Montgesoie berichtet, wie die Gräfin „sich aus einem Buch vorlesen ließ, worin steht, wie der Teufel auf den Plan tritt, um den Menschen in seiner Todesstunde anzufechten“ (lire fist ung livre qui contient / La maniere comment l’Ennemy vient / L’omme tempter a son heure mortelle). Aus dieser Beschreibung lässt sich mit einiger Gewissheit bestimmen, um welches Buch es sich gehandelt haben muss: entweder das wohl im zweiten Viertel des 15. Jh.s entstandene und in mehrere Volkssprachen übersetzte Speculum artis bene moriendi oder die etwas jüngere sogenannte Bilder-Ars moriendi, von der die ältesten erhaltenen Ausgaben in Blockbuchformat, darunter auch eine in französischer Übersetzung, aus den frühen 1460er Jahren datieren. Das Speculum enthält ein Kapitel über die fünf Anfechtungen, mit denen der Teufel die Seele des sterbenden Menschen an sich zu reißen versucht, und über die jeweils anzuwendenden Gegenmittel: Wenn der Teufel danach trachtet, den Sterbenden von seinem Glauben abzubringen, solle man das Glaubensbekenntnis rezitieren; wenn er es so weit treibt, dass der Mensch an der Vergebung der Sünden verzweifelt, gilt es, die Gedanken des Sterbenden verstärkt auf den gekreuzigten Christus zu konzentrieren; Ungeduld gegenüber Krankheit und Leiden ist durch Ausharren in Geduld, Leidensbereitschaft und Nächstenliebe zu bekämpfen; geistlicher Hochmut, d.h. die vom Teufel geschürte Überschätzung der eigenen Verdienste, lässt sich durch Vergegenwärtigung der Sünden wieder austreiben; die Sehnsucht nach Personen und Dingen der Welt wird letztlich in der völligen Hinwendung des Sterbenden zu Gott überwunden. Aus dem vom Speculum angebotenen Überblick über die heilsgefährdenden Strategien des Teufels in der Todesstunde ist das Schema der fünf paarweise angeordneten Anfechtungen und entgegenwirkenden ‚Inspirationen‘, d.h. tröstlichen Ansprachen, des Schutzengels in der Bilder-Ars moriendi hervorgegangen: Jedes Element wird in einem eigenen Kapitel abgehandelt, mit einer Illustration versehen und in dieser Kombination von Text und Bild „jedem Menschen, der sich einen guten Tod wünscht“ (qui […] bene mori velit), „wie in einem Spiegel“ (tanquam speculum) zur „Betrachtung“ (speculatio) und „genauen Überlegung“ (diligenter considerare) „vor Augen geführt“ (oculis obiceri).

Description

Keywords

German literature, 1500-1599, Reformation, prose, <i>ars moriendi</i>, literary tradition

Journal Title

Euphorion - Zeitschrift fur Literaturgeschichte

Conference Name

Journal ISSN

0014-2328
2698-4857

Volume Title

113

Publisher

Universitaetsverlag Winter GmbH

Publisher DOI

Rights

All rights reserved